Duell im Regen

Eine Drehbuchskizze „Duell im Regen“ würde (Plutarchs bioi paralleloi nachempfunden) zwei parallel verlaufende Biographien erzählen. Zum einen (Kapitel 1) die Geschichte des jungen C, eines Rebellen aus großbürgerlichem Pariser Hause, wo man ein gepflegtes „Sozialliberal“ spricht. Kühl seziert er die Lebenslügen der post-68er Salonlinken, der „gauche caviar“: ihre Floskeln über Gleichheit, Solidarität, Résistance, laïcité usw., die Betroffenheits-Attitüde, sie sich militant politisch gibt, die Distinktions-Arroganz gegenüber der „rechten“, konservativen Bourgeoisie. Am besten lässt sich dafür (wie in Yasmina Rezas „Gott des Gemetzels“) in apart eingerichteten Altbauwohnungen kämpfen. So muss für die Aktienpakete, Zweitwohnungen, Bildungsreisen, Kunstsammlungen, Konzertabonnements nichts daraus folgen. C ist angewidert von soviel Hypokrisie (die sich selbst ignoriert). Er steigt aus, engagiert sich im Kampf militanter Globalisierungsgegner, schreibt eine soziologische Dissertation, verfasst situationistische Pamphlete, gründet mit Freundinnen und Freunden eine anarcho-sozialistische Kommune in der Provinz.

27-04-09-chabannes-p1040928-644x430[Französische Provinz]

Die Parallelgeschichte (Kapitel 2) würde von F erzählen, einem proletarischen Jungen aus der Banlieue. Der Vater ist Fernfahrer, die Mutter arbeitet als städtische Angestellte. Der Vater stirbt, als F dreizehn ist. Die Mutter schuftet ab sofort für zwei und ermöglicht dem begabten Jungen, der es einmal besser haben soll, das Abitur. F entscheidet sich zunächst (wie unter Kandidaten des sozialen Aufstiegs üblich) für den Lehrerberuf. Das Studium finanziert er sich durch Jobs als Krankenpfleger, Kellner, Bürohilfe. Daneben engagiert er sich in linken Parteien, die er aber schnell wieder verlässt. Er begegnet dort nur bourgeoisen Maulaufreißern, in der trotzkistischen Liga ebenso gut wie in sozialistischen Partei. Jungs und Mädels, die mit der Revolution hausieren gehen, während ihnen der silberne Löffel aus dem Arsch guckt. Blablabla. „Proletaaaarier aller Länder…“ Was für ein Witz! Mit zwanzig machen sie Revolution, ab dreißig übernehmen sie die vorgesehenen Posten, ab fünfzig wird geerbt. F wird es anders machen. Er schließt sich der republikanischen Rechten an, beginnt ein Zweitstudium: Jura, und macht Karriere. Mit vierunddreißig wird er Staatsanwalt, kurze Zeit später Jugendrichter, schließlich Untersuchungsrichter in Paris (Abteilung Terrorismusbekämpfung). Und hier kreuzen sich die Lebenslinien der beiden Protagonisten. (Man sieht, wie F den Verhörraum betritt). C sitzt mittlerweile in U-Haft. Er ist angeklagt, eine TGV-Linie sabotiert und eine ultralinke terroristische Vereinigung gegründet zu haben.

kluegel4[aus: Georg Simon Klügel: Conatuum praecipuorum theoriam parallelarum demonstrandi recensio,1763]

Passiert war Folgendes (Kapitel 3). Polizei und Geheimdienste wurden von einer ehrgeizigen Innenministerin instrumentalisiert, die unbedingt Bilder einer terroristischen Bedrohung im Fernsehen haben wollte und sie von ihren Geheimdiensten auch pünktlich geliefert bekam. C’s anarcho-sozialistische Provinzkommune mit ihren utopisch-revolutionären, in jeder Buchhandlung ausliegenden Pamphleten war leichte Beute. Sie hatte zur Allgemeinen Blockade aufgerufen, und zwei TGV’s waren auf offener Strecke liegen geblieben, wegen deutscher Hakenkrallen in den Oberleitungen. Man brauchte nur noch den Apparat in Bewegung setzen: Schwer bewaffnete Polizeibrigaden umstellen im Morgengrauen einen Bauernhof in der tiefsten Provinz, das Fernsehen ist LIVE dabei, Personenkontrollen in den Bahnhöfen, der übliche Kitzel des AUSNAHMEZUSTANDS auf allen Kanälen. („Unsere tägliche Medien-Apokalypse gib uns heute“ – womöglich kämen wir sonst auf die Idee, unserem Nächsten freundlich zu begegnen).

tarnac_canal_plus_inside[TV-Bild, France2]

Mit dem juristischen Dossier, dem es an tatsächlich belastbarem Material an allen Ecken und Enden fehlt, nämlich am Nachweis, dass C es war, der die TGV’s zum Halten zwang, ist der junge, bissige F betraut. Über Nacht wird er durch die Medien-Polit-Affäre ebenso berühmt wie C. Die Affäre war von Anfang an als große Medien-Show lanciert worden. Das Publikum braucht Unterhaltung, Ablenkung, Einschüchterung, Angst, Krise (während die Regierung mit wirklich wichtigen Dingen beschäftigt ist: Libyen, Waffenexporte, Uranabbau, Bankenrettung u. dgl.)

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[Klassisches Filmzitat]

In den endlosen Verhören, die nun folgen (Kapitel 4), sitzen C und F sich als unversöhnliche Feinde gegenüber. Der eine sieht im anderen, was er more geometrico in ihm sehen muss. C, der ‚ultralinke‘ Aussteiger, begegnet einem Ressentiment geladenen ‚rechten‘ Staatsbeamten. F wiederum hat in C – endlich! – ein Söhnchen der verhassten Bourgeoisie vor sich. Darauf hat er lange gewartet. Sein Lieblingsfilm ist nicht umsonst Quentin Tarantinos Rache-Epos „Kill Bill“. (Womit auch klar ist, welche sozialen Affekte das Ketchup-Gemetzel ins Szene setzt.) Soweit die Biographien. Für die LÖSUNG des Problems der sich (nicht) schneidenden Parallelen wären drei Versionen denkbar (Kapitel 5).

Version 1: C gewinnt. Der Fall lässt sich juristisch nicht halten; die Medien decken immer mehr Ungereimtheiten auf; der neue Innenminister – die Ministerin musste wegen einer Korruptionsaffäre inzwischen zurücktreten – möchte die Sache schnell vom Tisch haben. Man kann F handwerkliche Fehler nachweisen, das Verfahren wird eingestellt. F landet auf Weisung des neuen Ministers in der Provinz. (Schlussbild: F starrt aus seinem Provinzbüro in den Regen.)

Version 2: F gewinnt. Die Polizei kann wie durch ein Wunder bislang unbekanntes Beweismaterial gegen C liefern. Es kommt zur Anklage wegen Landfriedensbruchs und Bildung einer terroristischen Vereinigung. C wird verurteilt. (Schlussbild: C starrt aus seiner Zelle in den Regen).

Version 3 (fraglos die langweiligste): Keiner der Beteiligten gewinnt, alle verlieren ein bisschen. Man braucht das Spektakel nicht mehr. Der Terrorismusvorwurf gegen C erweist sich als unhaltbar, das Verfahren schleppt sich endlos dahin. Irgendwann wird F als Untersuchungsrichter abgelöst. Um nicht das Gesicht zu verlieren, zieht sich die Staatsanwaltschaft auf einen Prozess wegen Sachbeschädigung und versuchter Körperverletzung zurück. C kommt mit einer Geldstrafe davon, F ist wieder Beamter unter Beamten. War da etwas? Circulez, il n’y a rien à voir… (Schlussbild: F und C starren in denselben Regen).

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Das Beste an den skizzierten Vitae parallelae aber wäre: Nichts ist erfunden, nichts erdichtet. Das Drehbuch würde nur EINE WAHRE BEGEBENHEIT wiederholen. Sie hat im November 2008 in TARNAC begonnen und seither nicht aufgehört. Die drehbuchreife Parabel (von der Geometrie der herrschenden Verhältnisse) ist die französische Realität nur noch einmal. Version 3 kriecht abseits der Öffentlichkeit durch die Korridore der Justizbürokratie und will an kein Ende kommen. Man muss die Affäre politisch gaaaanz laaaangsaaaam ersticken. Bloß keine Aufregung. Das Regionalprogramm des französischen Fernsehens (France3 Limousin) vermeldete im März 2015: „Aucun procès n’est encore programmé à ce jour.“ Zu Deutsch: Ein Prozesstermin ist auch nach sieben Jahren noch nicht in Sicht.

Die beiden Protagonisten haben bekannte Namen. C heißt im richtigen Leben Julien Coupat; er hat mit seinen Freunden die Kommune in Tarnac gegründet, an der Zeitschrift TIQQUN mitgearbeitet, vermutlich das Manifest vom „kommenden Aufstand“ mit verfasst. Zwischen Dezember 2008 und Mai 2009 saß er in U-Haft und wurde (wie die anderen Angeklagten im „Fall Tarnac“) unter Auflagen freigelassen.

original.13966.demi[Libération, mit einem typischen Wortwitz]

F, der bissige, rechts-republikanische Untersuchungsrichter, heißt Thierry Fragnoli. Er hat seine Aufsteigergeschichte und seinen Hass auf die Salonlinke einem Journalisten, David Dufresne, ausführlich erzählt [David Dufresne: Tarnac, magasin général, Edition Calmann-Lévy 2012, 488 S.]. Was sich allerdings als Fehler herausstellte. Den Fall seines Lebens hat Fragnoli kurz nach der Publikation des Buches von Dufresne (klugerweise) selbst abgegeben.

Die Anwälte der Angeklagten von Tarnac konnten unter Verweis auf die KILL-BILL-Passagen des Buchs die Unparteilichkeit Fragnolis öffentlich in Zweifel ziehen. Und nebenbei kam heraus, dass Fragnoli gern die eine oder andere Information zum laufenden Verfahren anonym an befreundete Journalisten weitergegeben hat – um, wie er sich verteidigte, der Parteilichkeit und Voreingenommenheit der linksliberalen Presse etwas entgegenzusetzen.

couv2[Buchwerbung; Calman-Lévy]

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Thierry Fragnoli hätte die ganze Geschichte, wie er David Dufresne verraten hat, gern verfilmt gesehen. Kino ist seine große Leidenschaft. Am liebsten hätte er Brad Pitt als Darsteller seiner selbst bewundert. Die Idee klingt megaloman, leuchtet psychologisch aber ein. Für die Rolle Julien Coupats (der seinerseits die Filmidee natürlich grotesk und lächerlich findet) blieben dann (billigerweise) nur noch Johnny Depp oder Matt Damon. Als Titelsong möchte man in jedem Fall aber vorschlagen (auch wenn es jetzt zu spät dazu ist): Metallica und Lou Reed, die Brechts „Lied vom Klassenfeind“ neu eingespielt hätten. Mit dem unvergesslichen Refrain (und jetzt alle!):

„Und ich lernte, wieso und weswegen / Da ein Riss ist durch die Welt! / Und der bleibt zwischen uns, weil der Regen / Von oben nach unten fällt.“

 

PS: In der Zwischenzeit (seit 2015) hat tatsächlich ein Prozess stattgefunden. Er ging im April 2018 zu Ende. Die Justiz bestätigte der Staatsanwaltschaft, dass es sich bei der angeblichen „terroristischen Vereinigung“ des „groupe de Tarnac“ (mitsamt den entsprechenden Anschlägen)  – Achtung! – um eine Fiktion gehandelt habe. Übrig geblieben sind die Vorwürfe: Verweigerung einer DNA-Probe, Versuch der Fälschung eines amtlichen Schreibens, Hehlerei (an die Adresse eines der Mitangeklagten, der zu vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt wurde). Es gibt keinen Grund, die Drehbuchskizze umzuschreiben. Sie war von Anfang genau die Fiktion, welche die herrschende Wirklichkeit, in der es Oben, Unten, Risse, Regen und Fälle gibt, in einem fort produziert. Die ‚Helden‘ der Geschichte sind: rein fiktiv, Figuren eines (ebenso billigen wie monströsen) Stücks, das ihnen aufgezwungen wurde.

Clemens Pornschlegel

Vgl. dazu den kurzen Bericht in Libération:  Tarnac : dix ans après, Julien Coupat et Yildune Lévy relaxés – Libération